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Die Globalisierung ist ein Basar

"Das Alte geht nicht mehr, und das Neue auch nicht. Das ist keine Kapitulation vor der überschätzten Sinnfrage, das ist eine Standort beschreibung des Übergangs."
Karsten Witte: Der Passagier - Das Passagere, Frankfurt am Main 1988

Das Café Wolonzow liegt auf der Hauptflaniermeile Odessas direkt gegenüber der Passagenarchitektur von 1898. Sie überkuppelt die vornehmsten Geschäfte der Stadt mit einem von wuchtigen weiblichen Figuren getragenen Glaseisendach und beherbergt das hinfällige Hotel Passage, das uns mit seinen Reminiszenzen der Jahrhundertwende und der Fünfziger Jahre bezaubert. Das Hotel als Ort, an dem die Bewegung der Reise vorübergehend zum Stillstand kommt, und die zur steinernen Architektur erstarrte Passage, die uns zum Flanieren auffordert, markieren gleichermaßen Punkte des Übergangs. Das Hochglanzmagazin, das im Café ausliegt, knüpft daran an. Es hat den Namen 'Passage' als Titel adaptiert. Außen ist es den internationalen Modemagazinen wie Harper‘s Bazaar oder Vogue nachempfunden. Im Inneren jedoch mischen sich in einem kruden Nacheinander Lokalnachrichten und weibliche Pin-ups, die zum "Fest des Fleisches" auffordern, mit Fotos von Schulabschlussklassen und pornografischen Bildergeschichten. Der Wunsch nach Veränderung kennt nur eine Richtung: die Annäherung an die westeuropäische Bilder/Welt.
Die realen Möglichkeiten des Transits jedoch werden immer kleiner, sind ungleich prosaischer und richten sich oft erst einmal nach Osten. Der ukrainische Handel über das Schwarze Meer nach Bulgarien und Südwesteuropa ist fast ganz zum Erliegen gekommen. In den letzten Jahren ist die Handelsflotte von 380 auf 20 Frachter dezimiert worden. Die Schiffe wurden vorwiegend von griechischen und amerikanischen Reedereien aufgekauft und befahren jetzt verstärkt die Strecke Odessa-Istanbul. Der Fährhandel zwischen Odessa und dem bulgarischen Varna, der noch vor acht Jahren im 8-Stundentakt rund um die Uhr ging, ist heute auf vier Frachter reduziert, die nur noch alle ein, zwei Wochen genug Ladung für eine Fahrt haben. Die Passage Odessa-Istanbul hingegen ist der neue Weg in den Westen über den Osten.
Istanbul, das durch Marmarameer, goldenes Horn und Bosporus die Schwarzmeerländer auf dem Wasserweg mit dem Mittelmeer verbindet und über Land Europa mit Kleinasien verknüpft, war immer schon Durchgangsstation unzähliger Kulturen. Laleli heißt das Viertel, das sich in wenigen Jahren zu einer vitalen, lärmenden Handelsenklave der „Neurussen“ entwickelt hat. Hier reihen sich große und kleine Pelz- und Ledergeschäfte eng aneinander, vor denen bizarre Schaufensterpuppen mit kantigen Gesichtszügen aufgestellt sind und die Waren aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion an mehr oder weniger bedeckten Puppenleibern anbieten. Gestandene Geschäftsbesitzerinnen treiben ihre männlichen Angestellten mit knappen russischen Sätzen an, die engen Auslagen noch dichter zu bepacken, während auf den Straßen mobile Händlerinnen mit kleinen Fahrgestellen Sammelsurien internationaler Billigwaren anpreisen. Zwei riesige chinesische Porzellanvasen geben sich auf einem solchen fahrenden Miniladen mit zwei Paar Lederstiefeln und einem russischen Teeservice in Blau-Weiß-Gold ein buntes kulturelles Stelldichein. In Laleli sind es die Frauen, die mit Tages- und Urlaubsvisen aus der Ukraine, Weißrussland, Georgien und Moldawien einreisen und den Handel bestimmen.
In den uralten Basaren der türkischen Viertel kehrt sich dieses Bild um. Hier stehen ausschließlich Männer hinter den farbenfrohen Teppich-, Schmuck- oder Gewürzständen und versuchen uns auf Englisch, Französisch, Italienisch zum Kauf zu verlocken. "Ausländer rein" ruft uns verschmitzt ein Verkäufer zu und bietet uns in perfektem Deutsch seine Honig-, Mandel- und Zuckerwaren an. Auch die Schaufensterauslagen sind von ganz anderen Figurinen bevölkert. Die weiblichen Puppen zeigen kein Fleckchen Haut aus Pappmaché, blicken uns aber gut geschminkt aus ihren mit Kopftüchern umhüllten Gesichtern an. Umringt werden sie von unzähligen kleinen Prinzen in weißen, goldbetressten Anzügen und seidigen Umhängen, bekrönt von Hüten, wie sie Mini-Maharadschas gut anstünden, und einem kleinen Zepter in der Hand. Vor dem ägyptischen Markt am Eingang der Neuen Moschee begegnen wir diesen kleinen Jungen zum ersten Mal auch auf der Straße. Sie sind auf dem Weg zur Beschneidungszeremonie und zappeln an den Händen ihrer Mütter nervös herum oder scheuchen die unzähligen Tauben vor sich her, die vor der Moschee rituell gefüttert werden. Eine gewisse Unruhe scheint sich ihrer zu bemächtigen angesichts der "einschneidenden" Rite de Passage, die ihnen bevorsteht.
Vom Platz der Neuen Moschee aus führt die Galatabrücke in das gleichnamige Viertel auf der anderen Seite des goldenen Horns. Hier hatten die italienischen Handelsschiffe aus Genua und Venedig schon seit Jahrhunderten ihre Anlaufstelle und hier zeigt sich die Stadt in ihrem westlichsten Gewand. Die alte Metrolinie hat nur zwei Wagons und zwei wunderschön gekachelte Stationen. Sie führt vom Ufer bis zum wehrhaften Galataturm auf der Mitte des Hügels. Ab hier ist eine Art Miniaturstraßenbahn das Hauptverkehrsmittel aufwärts, die Hauptstrasse Istiklal Caddesi hinauf. Hier ist Istanbul endgültig in Europa angekommen: Häuserfassaden in den üppigen Formen von Historismus und Jugendstil reihen sich aneinander und hinter jedem dritten Portal eröffnet sich eine der vielen Passagen, in denen wir einmal unter einem wienerischen, einmal unter einem pariserischen Architekturhimmel flanieren, einkaufen oder speisen können. Wie ein System kommunizierender Röhren scheinen die Passagen von Odessa und Istanbul miteinander verknüpft zu sein. Doch an diesem Ort, inmitten der brodelnden Weltstadt am Bosporus, hat unsere Westostpassage endgültig ihren Umschlagpunkt erreicht. So wie Istanbul in diesen wenigen Straßenzügen sich nach Westen richtet, so treten wir von hier aus unsere Rückreise an. Unser Perspektivwechsel erhält unvermittelt eine Bestätigung durch das Monument, das sich Kemal Atatürk auf dem Taksimplatz, dem höchsten Punkt des Galataviertels, errichten ließ. Er erscheint hier wie eine Janusfigur in zwei entgegengesetzten Szenerien: Mit Fez und Militäruniform bekleidet wendet er sich als Führer der türkischen Armee gen Osten, während sein Doppelgänger in elegantem Anzug und lässigem Dandylook seinen Blick nach Westen richtet.
Als wir am Morgen unserer Abreise die Hagia Sophia passieren, das byzantinische Urbild sowohl der islamischen Moscheen wie der christlichen Zentralbauten in Westeuropa, verdunkelt ein riesiger Schwarm Störche den Himmel über dem Kuppelbau. In Polen, Ungarn und Rumänien waren wir ihnen noch in ihren prächtigen Nestern auf Schornsteinen und Telegrafenmasten begegnet. In der Türkei trafen wir sie vor den Toren Istanbuls in Gruppen von Hunderten auf Feldern und Brachen an, wo sie sich zur großen Weiterreise nach Süden sammelten. Als wir die Stadt verlassen, müssen wir an der Küstenstraße, die uns über Griechenland und Italien nach Deutschland zurückführt, das Auto für einige Minuten anhalten. Von der riesigen Mondlandschaft eines Baugrundes erheben sich Schwärme tausender Störche, um sich mit dem heißen Sommerwind übers Marmarameer nach Afrika tragen zu lassen. Kleinere Gruppen werden in Wirbeln immer wieder zurück geweht und müssen in Schleifen wieder landen, um immer aufs Neue ihren Start zu versuchen. Einige werden ganz zurück bleiben, die meisten aber werden die Passage zum anderen Kontinent geschafft haben und im nächsten Sommer wieder zurückkehren: nach Rumänien, Polen und vielleicht auch vor die Tore von Berlin.

Katharina Sykora und Ulrike Ottinger
Veröffentlicht: Die Tageszeitung – Berlin, 21. Dezember 2000